Text basierend auf Niederschriften der Lehrveranstaltungen zu Musikästhetik und kulturwissenschaftlich orientierter Musikwissenschaft von A. A. Bispo an den Universitäten Bonn und Köln 2002-2008.

Emblem der Bewegung Nova Difusão und des Centro de Pesquisas em Musicologia, gegr. S. Paulo 1968

Prof. Dr. phil. habil. Antonio Alexandre Bispo

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

Prof. Dr. Antonio Alexandre Bispo. Lehrveranstaltungen im Fach Ästhetik in Brasilien und Deutschland
Prof. Dr. Antonio Alexandre Bispo. Lehrveranstaltungen im Fach Ästhetik in Brasilien und Deutschland

zeitgenössische musik

& gesellschaft




pierre klose
1921-2006



rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo
fachbereiche ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie
fundamente der expression und kommunikation des menschen
1972-1974

vorausgehende studien und initiativen

zentrum für forschungen in musikologie
gesellschaft neue diffusion ND 1968

museum zeitgenössischer kunst der universität são paulo 1968
fakultät für architektur der universität são paulo 1968
internationale kurse von curitiba 1968-1970
musikseminare der bundesuniversität bahia 1969
festival/happening der stiftung der künste S.C.S. 1970

 


Ein wichtiger Gegenstand von Studien und Diskussionen im Fachbereich Ästhetik und Ethnomusikologie der Fakultät für Musik und Kunsterziehung des Musikinstituts São Paulo war das Problem der Atonalität und Zwölftonmusik im Musikschaffen unter sozial- und kulturwissenschaftlichem Aspekt. Diese Debatte wurde im Kurs Strukturationstheorie in enger interdisziplinärer Zusammenarbeit mit den Kompositionsklassen unter der Leitung des Komponisten, Musikhistorikers und Dirigenten Roberto Schnorrenberg (1929-1983) geführt. 


Seit langem führte die Auseinandersetzung mit der Atonalität in Brasilien zu konträren Positionierungen und ambivalenten Haltungen von Komponisten und Kritikern. Es wurde über Jahrzehnte zu einem zentralen Thema von Disputen in der Musikästhetik. Komponisten und Kritiker, die sich für die Schaffung einer für Brasilien kulturell geeigneten Musik aussprachen und dafür auf tradierte Musik und Folklore zurückgriffen, waren bei unterschiedlichen politischen Richtungen auf die Verwendung von Elementen einer Musiksprache angewiesen, die tonal war. Andere, die sich an internationalen Entwicklungen orientierten und eher von „universellen“ Kriterien geprägt waren, wurden vielfach von ihnen verfemt. Diese Differenzen traten vor allem in den von nationalistischen Bestrebungen beherrschten Denk- und Sichtweisen der dreißiger und vierziger Jahre in besonderer Intensität zutage.


In den 1960er Jahren erfuhr die Diskussion eine neue Aktualität. Während sich die jungen und progressiv denkenden Komponisten, Musiker und Intellektuellen für die zeitgenössische Musik und die Avantgarde einsetzten, erfuhren die Tendenzen, die sich an Elementen der Folklore orientierten, eine unerwartete und z.T. paradoxe Wiederbelebung. Die Impulse aus dem II. Vatikanischen Konzil führten zu Bestrebungen nach einer kulturgerechten Kirchenmusik, die Komponisten, die sich mit der Kirchenmusik befassten, dazu brachten, sich erneut der Musiktradition zuzuwenden und in ihrem Schaffen Elemente der Volks- und Popularmusik zu verwenden. Einige Komponisten, die zugleich Theologen waren – wie José de Almeida Penalva (1924-2002) – suchten nach einer Vereinbarung des Unvereinbaren, einer Quadratur des Kreises, indem sie zugleich serielle Kompositionen schufen, aber rhythmische, formale oder andere Elemente der traditierten Volksmusik verwendeten. Konservative Komponisten waren außerdem der Meinung, das tonale System sei nicht voll ausgeschöpft.


Diese Problematik wurde zu einem der zentralen Themen für Diskussionen im Rahmen der Bewegung zur Erneuerung von Denk- und Sichtweisen in Kultur- und Musikstudien, die 1968 zur Gründung der Nova Difusão führte. Unter den Musikerpersönlichkeiten, die sich auf der Seite einer Erneuerung des Musikrepertoires und des Musikdenkens einsetzte, hob sich der Pianist Fritz Pierre Klose hervor.


Durch seinen Einsatz verdient Pierre Klose eine besondere Berücksichtigung in einer Musikgeschichte in globalen Zusammenhängen des 20. Jahrhunderts. Er ist eine der herausragendsten Musikerpersönlichkeiten im Rahmen der Beziehungen zwischen der Schweiz und Brasilien und des Musikseminars von Salvador in Bahia, dank seiner Leitgestalt, Hans-Joachim Koellreuter (1915-2005), eines der fortschrittlichsten Zentren des Musikschaffens und -denkens Brasiliens.  Klose war in Altstätten geboren, eine historische Stadt in der Region Rheintal im Kanton St. Gallen in der Ostschweiz. Er fügte sich in eine jahrhundertealte Musiktradition ein, die im Mittelalter durch das Kloster St. Gallen eine zentrale Stellung in der Musikgeschichte einnahm. Es ist verständlich, dass er sich an Kriterien orientiert, die eine Entwicklung der Musiksprache im Verlaufe der Jahrhunderte betonte und dazu tendierte, die Atonalität nicht als einen Bruch, sondern als eine Folge und Weiterentwicklung anzusehen.


Seine musikalische Ausbildung erhielt er im Musikkonservatorium Lausanne, in dem er sich früh als Pianist hervortat und seine Studien als prämierter Solist abschloss. Die Atmosphäre von Lausanne als eine Stadt mit alter Universitätstradition, die mit ihren zahlreichen Bildungs- und Kultureinrichtungen ein vitales kosmopolitisches Studentenleben hatte, bestimmte seine Offenheit für neue Entwicklungen und neue Perspektiven.  Fritz Pierre Klose wurde in seiner Tätigkeit als Pianist und Dozent in Brasilien zu einem Vertreter dieses Lausanne-Geistes der Offenheit, des Interesses für neuen Entwicklungen und der Förderung junger Künstler.


Er brachte nach Brasilien zahlreiche Anregungen mit sich, die er bei seinen Studien am Konservatorium von Lausanne als prämierter Solisten erhalten hatte. Als er nach Salvador kam, half er das Musikseminar zu gründen, das von dem Rektor Edgar Santos (1894-1962) und von dem Komponisten, Dirigenten und Musiktheoretiker Hans-Joachim Koellreutter angeregt worden war. Neben einer intensiven Konzerttätigkeit, die ihn in mehrere Länder und Regionen Brasiliens führte, entwickelte er eine ebenso intensive Lehrtätigkeit als Dozent der Escola de Música e Artes Cênicas und als Gastdozent in anderen Institutionen und bei internationalen Kursen. 


Pierre Klose wurde zu einer wichtigen Bezugsperson in der in São Paulo Mitte der 1960er Jahren entstandenen Bewegung zur Erneuerung in Kultur- und Musikstudien, die 1968 zur Gründung der Gesellschaft Nova Difusão (ND) mit dem Centro de Pesquisas em Musicologia. Er setze sich neben Persönlichkeiten wie Paulo Affonso de Moura Ferreira und Ernst Widmer für die Verbreitung zeitgenössischer Musik für Klavier, für eine Erneuerung des Konzertrepertoires und des Klavierunterrichts in Brasilien ein. Er kam damit einem Desideratum entgegen, das bei einem Konferenz-Konzert am Museum Zeitgenössischer Kunst der Universität São Paulo 1967 erhoben worden war. 


Mittelpunkt der Studien ist die Rezeption der zweiten Wiener Schule in Brasilien. Klose beklagte die unzureichenden Kenntnisse von Werken von Komponisten der Zweiten Wiener Schule in den Musikhochschulen Brasiliens. Warum waren Komponisten wie Alban Berg (1885-1935) nicht in Lehrplänen und kaum im Musikleben vertreten? Wenn die besondere Bedeutung von A. Schönberg (1874-1951) und seinen Schülern zwar in  Musikgeschichtswerken hervorgehoben und die serielle Technik in Kompositionskursen fortschrittlicher Kreise berücksichtigt wurde, warum wurden die Werke dieser Komponisten so selten aufgeführt, warum blieben sie so unzugänglich? Würde es sich lohnen, für ihre verstärkte Aufnahme bei eine Erneuerung der Lehrpläne, des Repertoires oder der Kulturpolitik einzutreten, wenn sie eher zu privaten Gruppen mit Avantgarde-Habitus gleichsam esoterisch zu gehören schienen? Wie ließ sich diese Einschränkung auf Kreise, denen trotz ihrer progressiven Haltung der Hauch des Elitären anhaftete, mit dem Anliegen vereinbaren, Grenzen in allen Hinsichten zu überschreiten – auch die der Klassen und Gruppen –, das die Bestrebungen zur Erneuerung der Denk -und Sichtweisen seit Mitte der 1960er Jahren prägte? 


Der Einsatz für Werke, die eher einem exlusiven Kreis vorbehalten waren, erschien in Widerspruch zu dem Anliegen einer Bewegung, die grenzüberschreitende Trennungen zwischen Hoch-, Volks- und Popularmusik sowie zwischen sozialen Sphären und Gruppen zu überwinden suchte. Es stellte sich als paradox dar, dass gerade eine Musikentwicklung, die in der Musikgeschichtsbetrachtung des 20. Jahrhunderts zukunftsweisend war, unter dieser Perspektiv um 1970 nicht mehr aktuell erschien. Sie war nicht mehr zeitgemäß, da sie den Bedürfnissen und Anliegen zur Befreiung von alten Strukturen und Normen der 1960er Jahren nicht entsprach. 


Auf der anderen Seite war unstrittig, das die Zweite Wiener Schule von außerordentlicher Bedeutung für die Entwicklung des Denkens in Kultur-  und Musikforschung gewesen war und blieb. Sie gehörte zu Prozessen und hat Prozesse ausgelöst, die in ihren Kontexten und Auswirkungen unübersehbar waren und analysiert werden sollten. Die Auseinandersetzung mit der Epoche ihrer Entstehung ließ ins Bewusstsein treten, dass es trotz aller Bestrebungen nach Erneuerung unterschiedliche Ansätze für die Auseinandersetzung mit dem zu überwindenden Etablierten sowohl um die Jahrhundertwende als auch in der Gegenwart gab. Denk- und Kompositionsweisen, die von bestimmten Persönlichkeiten und ihren Schülern des beginnenden 20. Jahrhundertes vertreten wurden, begründeten unterschiedliche Entwicklungen, die sich auf dem amerikanischen Kontinent auswirkten. 


In Brasilien wirkten Strömungen des Denkens, Forschens und Schaffens nach, die sich zwar zeitlich und räumlich in den Gesamtkontext der zweiten Wiener Schule einfügten, diese unterschieden sich jedoch von jener in verschiedenen Aspekten. Sie deuten auf eine Vielfalt von Tendenzen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hin, die die Erneuerung von Denk- und Sichtweisen anstrebten und sie u.a. in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Volksmusiktraditionen und vor allem nicht-abendländischen Musikkulturen suchten.


Gegenstand von Analysen und Besprechungen im Rahmen des Musikfestivals von Curitiba 1970 war die Sonate op. 1 von Alban Berg (1885-1935) aus dem Jahre 1908. Diese Studien wurden zur Grundlage von Lehreinheiten der Estruturação im Fachbereich Ästhetik der Musikfakultät São Paulo ab 1972. In ihre konnten Fragen der Weiterentwicklung morphologischer Traditionen und zugleich die Grenzen der Durmoll-Tonalität erörtert werden. Die Bestrebung zur Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse konnte an diesem Werk auch hinsichtlich der Analyse der Musiksprache und des Tonsatzes erprobt werden. Das Werk wurde als ein besonders repräsentatives Beispiel für die Ansätze und zugleich die Problematik der Schule angesehen, die Arnold Schönberg (1874-1951) als Leitgestalt hatte. Die Auseinandersetzung mit und Beibehaltung von tradierten Formen – wie die Sonatenform – konnte dort aufgezeigt werden. Die Intensivieriung zu äußersten Grenzen spätromantischer Musiksprache, die vor allem in harmonischer Hinsicht wahrzunehmen war, lenkte die Aufmerksamkeit auf Kontinuitätslinien mit der Tradition. Die Überlegungen über diese Kontinuität von Entwicklungen, die in äußerster Spannung zu ihren Grenzbereichen geführt wurden, warf die Frage nach der Weiterwirkung von evolutiven Konzepten und damit des Evolutionismus auf, der das 19. Jahrhundert besonders geprägt hat.


Die Diskussion im Fachbereich Ästhetik erfuhr eine theoretische Ausweitung im Sinne der notwendigen Unterscheidung zwischen einer prozessorienten Forschung und evolutiven Auffassungen. Eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Evolutionsgedanken in all seinen Ausprägungen und vor allem des Evolutionismus erschien für Brasilien als einem Land, das in seiner Flagge seit der Ausrufung der Republik den Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts preist, von besonderer Bedeutung. Die Diskussion schien besonders aktuell in Jahren, in denen unter der Militärregierung die Entwicklung im Sinne des Desenvolvimentismo in allen Bereichen forciert wurde.






Text basierend auf Niederschriften der Lehrveranstaltungen zu Musikästhetik und kulturwissenschaftlich orientierter Musikwissenschaft von A. A. Bispo an den Universitäten Bonn und Köln 2002-2008.