AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo



kunstästhetik
& musik der gegenwart




walter zanini

1925 - 2013




rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien
1970 - 1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo
fachbereiche ästhetik, ethnomusikologie und
fundamente der expression und kommunikation



vorausgehende studien und initiativen


zentrum für forschungen in musikologie
gesellschaft neue diffusion ND 1968
internationale kurse von paraná 1969 und 1970

festival música nova, santos

Die Ästhetik, die an der Fakultät für Musik und Kunsterziehung des Musikinstituts São Paulo – IMSP – ab 1972 studiert wurde, hing untrennbar mit der Debatte zusammen, die sich in Kreisen von Komponisten und Musikern, die sich mit Tendenzen der zeitgenössischen Musik auseinandersetzen, seit Jahren in Gang war. Diese Debatte vollzog sich im Rahmen der Bewegung zur Erneuerung von Denk- und Sichtweisen, die 1968 zur Gründung der Gesellschaft Nova Difusão führte, in enger Zusammenarbeit mit dem Pianisten Paulo Affonso de Moura Ferreira, Komponisten wie Ernst Widmer (1927-1990) und Gilberto Mendes (1922-2016), Dirigenten wie Klaus-Dieter Wolf (1926.1974) und Kunsthistorikern wie Walter Zanini, dem Direktor des Museums Zeitgenössischer Kunst der Universität São Paulo (MAC).


Richtungsweisend bei dieser Entwicklung war ein Konzert zeitgenössischer Musik, das im Rahmen der zweiten Ausstellung junger zeitgenössischer Kunst am 19. November 1968 im MAC kurz nach der offiziellen Gründung der Nova Difusão stattfand. Das Konzert wurde von Ula Wolff (Sopran), Paulo Affonso de Moura Ferreira (Klavier) und Valeska Hadelich (Violine) bestritten.


Es sprach für die wohlüberlegten Kriterien, die die Programmgestaltung leiteten, dass in ihm an erster Stelle Hans-Joachim Koellreutter (1915-2005) gedacht wurde. Damit knüpfte die Bewegung von Anfang an an eine Entwicklung an, die auf Koellreutter als wichtigsten Förderer und Lehrer der Avantgarde in Brasilien zurückging. Er lebte und wirkte zu dieser Zeit in Neu Delhi, und das von ihm aufgeführte Werk – die Peça para piano aus dem Jahr 1965 – offenbarte seine Auseinandersetzung mit der Musikkultur Indiens, die nicht nur sein Denken und Musikschaffen prägte, sondern auch zu Studien führte, die in einer weit verbreiteten Publikation ihren Niederschlag fanden. Diese in portugiesischer Sprache veröffentlichte Darstellung der Musik Indiens sollte den Studierenden der Ethnomusikologie als Grundtext dienen.


Damit entfachten sich in Brasilien Überlegungen über die Entwicklung der Auseinandersetzung mit der Musik Indiens und überhaupt mit dem Orient. Auch Martin Braunwieser (1901-1991), der künstlerisch-wissenschaftliche Leiter des Musikinstituts, wurde in seiner Jugend in Österreich von dieser Auseinandersetzung mit der Musikkultur des Orients erfasst, ein Interesse, das er Ende der 1920er Jahre mit nach Brasilien brachte. Die Aufmerksamkeit richtete sich auf die Geschichte der Beziehungen und der Auseinandersetzungen zwischen Ost und West in Kulturprozessen im Verlaufe des 20. Jahrhunderts mit ihren Kontinuitäten, aber auch Wenden, in die sich auch Brasilien einfügte.


Es folgten im Programm Werke zweier Komponisten, die in enger Zusammenarbeit mit der Nova Difusão standen: Ernst Widmer (1927-1990) mit zwei Stücken des Ludus Brasiliensis und José de Almeida Penalva (1924-2002) mit der Mini-Suite doze tons, die er im diesem Jahr 1968 komponiert hatte. Zwei Problemkreise verbanden sich mit diesen Werken, die nicht nur ästhetische, sondern auch die pädagogischen Überlegungen über Jahre prägten. Zum einen entsprach der Ludus Brasiliensis des schweizerischen, in Bahia wirkenden Komponisten der als notwendig erachteten Notwendigkeit, den Klavierunterricht in Brasilien konzeptionell zu erneuern, was auch ein Anliegen war von musikschaffenden brasilianischen Pianisten wie Heitor Alimonda (1922-2002). Das Werk von Widmer sollte nicht nur bei von der Nova Difusão orientiertem Unterricht in Musikschulen, in der Stiftung für Künste von São Caetano und an der Musikfakultät eingesetzt werden, sondern auch als Gegenstand ethnomusikologischer Analysen dienen. Die Komposition von José Penalva (1924-2002) brachte das Problem der Vereinbarkeit serieller Technik und der Atonalität mit der tradierten Musikkultur Brasiliens ins Bewusstsein, die grundsätzlich tonal oder modal-tonal war. Als ein Theologe, der den aus dem 2. Vatikanischen Konzil hervorgegangen Reformtendenzen der Kirchenmusik verpflichtet war, stand er vor der Aufgabe, eine kulturgerechten Musik zu schaffen und damit einer nur kleinen Kreisen zugänglichen zeitgenössischen Musik entgegen zu wirken. Penalva suchte dieses Problem zu lösen, indem er zwar die Zwölftontechnik verwendete, aber Formen und Gattungen der brasilianischen Traditionen benutzte, nämlich eine Ciranda, eine Modinha und eine Valsa. Diese Dichotomie zwischen Morphologie und Tonsatz der Musiksprache warf Fragen der Kohärenz von Konzeption und Struktur auf, die im Fach Strukturationstheorie im Rahmen des Fachbereichs Ästhetik diskutiert wurden.


Die Quatro Liriche di Antonio Machado von Luigi Dallapiccola (1904-1975) aus dem Jahr 1948 wurde als ein Beispiel für die Bedeutung des spanischen Dichters und der Kunst der Stimmbehandlung italienischer Komponisten für Brasilien vorgestellt. Die Kompositionen sollten als Gegenstand von interdisziplinären Besprechungen im Rahmen der Fächer Prosodie, Ethnomusikologie und Ästhetik dienen.


Die Auseinandersetzung mit Problemen der Behandlung der Stimme und der Textvertonung in zeitgenössischer Musik wurde maßgeblich geprägt durch The Wonderful Widow of Eighteen Springs von John Cage (1912-1992) (1942). Diese Komposition für Stimme und geschlossenes Klavier, auf dem über dem Holz perkutiert wird, basiert auf einer bearbeiteten Textversion von Finnegans Wake von James Joyce (1882-1941), die nach möglichen Vorprägungen von Verfahrensweisen analysiert wurde, die John Cage in seinem Musikschaffen anwendete.


Die Debatte wurde stets bereichert durch Auseinandersetzungen mit Francesca da Rimini op. 47 von Boris Blacher (1903-1975), ein Fragment aus der Divina Comedia für Sopran und Violine. In diesem Werk war die Verwendung variabler Metrik festzustellen, die Boris Blacher bereits bei seinem Zyklus Ornamente op. 37 für Klavier von 1950/51 angewendet hatte. Die Metrik wurde nach einem vorherbestimmten, auf der Basis mathematischer Serien gebildeten Schema zugeordnet, was bei den Analysen im Fach Strukturation zu Besprechungen über die Beziehungen zwischen Mathematik und Gestaltung führte. In diesem Zusammenhang wurden auch vergleichbare Vorgehensweisen anderer Komponisten besprochen, u.a. Daniel Jones (1912-1993) und Joseph Schillinger (1895-1943).


Das „a piacere...“ (Propositions for piano) von Kazimierz Serocki (1922-1981) brachte andere ästhetische Fragen in die Diskussion, nämlich die der freien Auswahl der drei Strukturen und ihrer Segmente durch den Pianisten bei seinem Vortrag.


Die Klanglichen Projektionen (1955/56) von Franco Evangelisti (1926-1980) boten der Betrachtung einen weiteren, mit Gedanken der Freiheit zusammenhängenden Fragenkomplex dar, da der Interpret beim Vortrag die Freiheit besitzt, die allgemeine Entwicklung beider Stücke zu bestimmen, wobei ein Kontinuum durch die einfachen, unabhängigen Strukturen gewährleistet bleibt.


Stücke aus dem Buch für den Pianisten II von Luis de Pablo (1930-) dienten dazu aufzuzeigen, dass die Mitwirkung des Interpreten bei der klanglichen Realisierung des Werkes auch in dem Sinn erfolgen konnte, dass er sowohl die Reihenfolge der Klanggruppen und ihrer Töne als auch die Tempi auswählen kann.


Selbstverständlich wurde bei den Besprechungen des zeitgenössischen Musikschaffens Brasiliens seit dem Konzert von 1968 eine besondere Aufmerksamkeit Kompositionen von Claudio Santoro (1919-1989) gewidmet. Seine Intermitências I war ein Beispiel, wie um 1969 die Komponisten mit zwei Grundtendenzen beim Schaffen umgingen, nämlich äußerste Freiheit und äußerste Determiniertheit, die auch abwechseln können. Auch waren sie ein Beispiel dafür, wie reizvoll es die Komponisten fanden, beim Klavier aus der unmittelbaren Manipulation der Saiten neue Klangmöglichkeiten zu gewinnen.


Selbst bei konservativeren Komponisten wie Almeida Prado (1943-2010) wurde der Freiheit des Vortragenden größerer Raum gegeben. Bei seinem Cantus Mobiles, bei denen 7 Gesänge um eine Antiphone kreisen, wird die Reihenfolge und Wiederholung der Gesänge dem Interpreteten anheim gestellt.


Zweilfellos am meisten Anlass zu Diskussion boten über die Jahre Werke von John Cage, u.a. die Six Melodies for Violine oder vor allem 4’33’’.


Paulo Affonso de Moura Ferreira war der Musiker Brasiliens, der am meisten zur Verbreitung zeitgenössischer Werke polnischer Komponisten beitrug. Bereits 1968 schloss das Konzert im MAC mit den Miniaturen von Krzystof Penderecki (1933-2020), ein Werk, bei dem die Möglichkeiten der klanglichen Produktion von Klavier und Violine voll ausgeschöpft werden. Dauer und auch Höhe der Töne sind unbestimmt, wenn auch eng zusammenhängend. Dieser damalige Dozent der Musikhochschule von Krakau verwendete dabei Elemente musikalischer Graphie, die dem ausgeprägten Interesse von Komponisten und Theoretikern der Zeit für Fragen der Notation und des Visuellen im allgemeinen in Brasilien entgegengekamen.


Text basierend auf Niederschriften der Lehrveranstaltungen zu Musikästhetik und kulturwissenschaftlich orientierter Musikwissenschaft von Prof. Dr. A. A. Bispo an den Universitäten Bonn und Köln 2002-2008