AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo


kulturgeschichte
soziologie & musikästhetik






gilberto freyre

1900- 1987

rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo
fachbereiche ästhetik, ethnomusikologie und
fundamente der expression und kommunikation der menschen




vorausgehende studien und initiativen

museum für volkskünste und -techniken são paulos 1970

zentrum für forschungen in musikologie
gesellschaft neue diffusion ND 1968

fakultät für philosophie der universität são paulo 1968
internationale kurse von curitiba 1968-1970
stiftung des menschen des nordostens, recife 1971

institut für dokumentation, recife 1971

Die Bestrebungen zur Neuorientierung in verschiedenen Wissensbereichen in São Paulo in den 1960er Jahren waren eng mit Fragen der historischen Wissenschaften verbunden. Sie bezogen sich allgemein auf das Studium der Geschichte, dessen Sinn und Zweck, auf dessen Denker und Ansätze, Vorgehensweisen, auf das Lehrfach in Gymnasien und Universitäten. Im besonderen stellte sich die Frage nach der Behandlung der Geschichte Brasiliens in der Sekundarstufe und an Hochschulen. In technologisch und pragmatisch geprägten Sichtweisen der Zeit, die zur Entfernung von Latein oder Musik aus den Lehrplänen führten, stellte sich die Frage, ob Geschichte als Lehrfach in wissenschaftlich orientierten Gymnasien und postgymnasialen Oberstufen (Colégios) nowendig und zeitgemäß war.


Zugleich wurde die Notwendigkeit von geschichtlichen Kenntnissen Brasiliens für die Verfestigung eines nationalen Bewusstseins durch eine Politik, die nationalistisch geprägt war, betont. In Kreisen von Historikern wurde diese Instrumentalisierung der Geschichte, die mit Heroisierungen historischer Gestalten, mit einer allzu starken Fixierung auf Ereignisse und Daten der politischen Geschichte und einer nationalistischen, ja chauvinistischen Perspektive in der Deutung von Entwicklungen einherging, kritisch gesehen.


Diese Sicht- und Verfahrensweise in der Geschichtsauffassung und der Historiographie war schon lange Gegenstand von Diskussionen gewesen, erfuhr jedoch unter den politischen Entwicklungen der 1960er Jahren eine Wiederbelebung. Schon lange wurde diese Sicht der Geschichte kritisiert und im Anschluss an Tendenzen des Denkens vor allem von französischen Historikern für eine Mentalitätsgeschichte plädiert.


Einen maßgeblichen Einfluss auf Geschichtsauffassungen übte Gilberto Freyre aus, der in seinen Studien sozial- und kulturgeschichtlich vorging. Wie bestimmte Strömungen des europäischen Geschichtsdenkens erweiterte er das Spektrum der historischen Quellen, die er für seine Historiographie und historischen Kulturdarstellungen verwendete, indem er Zeitungsartikel, Werbungen, Annoncen, Pamphlete und sonstige Zeitzeugnisse heranzog.  


Seine Studien und Deutungen prägten das Geschichtsbild in verschiedenen Wissensbereichen und beeinflussten bewusst oder unbewusst Auffassungen, Interpretationen und Sichtsweisen nicht nur in der Geschichte und den Sozialwissenschaften, sondern auch in den Kulturstudien, u.a. in der Volkskunde. Die Ausweitung der dokumentarischen Grundlagen, die interdisziplinäre Vorgehensweise der Überschreitung von starren Fachgrenzen und die Interaktionen von historischen und empirischen Sichtweisen in seinen Analysen und Interpretationen wurden wegweisend unter verschiedenen Aspekten. Sein Werk trug zu einer Öffnung von Perspektiven bei, förderte auch in Fachbereichen wie der Volkskunde und Musikgeschichte die Ansicht, dass nicht nur unmittelbare Quellen zur Erforschung von bestimmten Spielen, Tänzen, Musikinstrumenten oder Stilen heranzuziehen seien, und richtete den Blick auf Gesamtkontexte, in die sie sich einfügten.


Wenn auch die Rezeption der Werke von Gilberto Freyre in ihrer Bedeutung in Kreisen von Forschern São Paulos sogar die Denktradition von Mário de Andrade (1893-1945) überschattete, war sie nicht unumstritten. Abgesehen von den Risiken willkürlicher Interpretationen oder vorgefasster Sichten, denen die Quellen nur zur Unterstützung dienten, wurden viele Auffassungen von Gilberto Freyre in politisch linksorientierten intellektuellen Kreisen kritisiert, die von neomarxistischen Geschichtsdeutungen geprägt waren und vielfach die Diskussion bestimmten. Im Spannungsfeld dieser z.T. polemisch geführten Diskussionen setzten die Überlegungen zur Neuorientierung der Volkskunde und der Musikgeschichte 1965/66 ein. Sie gingen von einer anderen Warte aus und konnten somit vom Partikulären zum Allgemeinen zur Debatte beitragen.


Ausgangspunkt der Überlegungen war die Erkenntnis der Notwendigkeit, Trennungen zwischen Sphären zu überwinden, so zwischen Kunst-, Volks- und Popularkultur, und somit auch von Kategorisierungen des Gegenstands der Betrachtung, die Fachbereiche definierten. In dieser Interdisziplinarität und Erweiterung des Spektrums der heranzuziehenden Zeitzeugnisse standen diese Ansichten dem Denken von Gilberto Freyre nahe.


Die Aufmerksamkeit wurde auf Prozesse zwischen Sphären in all ihren Dimensionen gerichtet, wobei Modelle aus chemischen bzw. physikalischen Prozessen verwendet wurden. Obwohl sie sich auf Prozesse ausrichteten und zu einer Aufwertung der Kultur des Alltags, der Unterprivilegierten in der Gesellschaft zielten, entsprachen diese Bestrebungen nicht einer Geschichtsideologie, die vom Begriff der Klasse und des Klassenkampfes ausging, da sie in diesem auch ein Kompartiment und somit den Ausdruck einer Denkweise sahen, die zu überwinden sei. Der prozessorientierte Ansatz war jedoch auch politisch. Er ging vom Modell der Durchlässigkeit semi-permeabler Membranen aus, sollte transformatorisch wirken und war somit kultur- und sozialpolitisch.


Diese Diskussion, die 1968 zur Gründung einer Organisation zur weiteren Entwicklung dieses Ansatzes in Theorie und Praxis führte, wurde 1969 im Rahmen des Fachbereiches Methodologie der Geschichte an der Fakultät für Philosophie, Wissenschaften und Literatur der Universität São Paulos weitergeführt. Sie wurde mit Volkskundlern und Musikforschern aus Pernambuco während der internationalen Kurse von Paraná 1970 und in Recife bei Besprechungen an der Universität und an Forschungsinstitutionen sowie mit Gilberto Freire 1971 fortgesetzt.


Text basierend auf Niederschriften der Lehrveranstaltungen zu Musikästhetik und kulturwissenschaftlich orientierter Musikwissenschaft von Prof. Dr. A. A. Bispo an den Universitäten Bonn und Köln 2002-2008