AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo


graphik
& notation




Tadeusz Łapiński

1928 - 2016




rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien
1970 - 1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo
fachbereiche ästhetik, ethnomusikologie und
fundamente der expression und kommunikation der menschen


vorausgehende studien und initiativen

museum zeitgenössischer kunst der universität são paulo 1967

zentrum für forschungen in musikologie
gesellschaft neue diffusion ND 1968

fakultät für philosophie der universität são paulo 1968

fakultät für architektur der universität são paulo 1968

fachbereiche visuelle kommunikation, kunstgeschichte und ästhetik 1968

Die Ausstellung von Werken des polnischen Künstlers Tadeusz Łapiński, die am 30. September 1969 im Museum Zeitgenössischer Kunst der Universität São Paulo (MAC) im Ibirapuera-Park eröffnet wurde, war ein Ereignis von herausragender Bedeutung nicht nur für die Kunst und die ästhetische Reflexion, sondern auch für die Entwicklung von Denk- und Sichtweisen in Kultur- und Musikforschung in Brasilien. Mit ihr wurde die Aufmerksamkeit auf zeitgenössische Kulturprozesse in Polen und auf die Rolle polnischer Künstler, Komponisten und Denker im grenzüberschreitenden Rahmen geweckt.


Łapiński war bereits als einer der bedeutendsten graphischen Künstler der Gegenwart anerkannt. Seine Lithographien in der von ihm entwickelten Regenbogen-Technik prägte unverwechselbar nicht nur seine visuelle Kunstsprache. Er zeichnete sich als ein vielseitiger Visionär aus, der Impulse zur theoretischen Reflexion in den verschiedenen Sphären des Wissens, des Kunstschaffens und der Forschung vermittelte. Nach seiner Graduierung 1955 an der Akademie der Schönen Künste und Lehrtätigkeit in Warschau verließ er 1963 Polen, bereiste Südosteuropa, kam nach Frankreich und nach Brasilien, wo er besonders in Porto Alegre zu einer hochgeachteten Künstlerpersönlichkeit wurde. Er ließ sich anschließend in dem USA nieder, wo er ab 1972 Professor an der Universität von Maryland war. Die Ausstellung in São Paulo war für Łapiński selbst ein wichtiges Moment in seinem Lebens- und Schaffensweg.


Die Tradition der graphischen Künste Polens, in die er sich durch seine Familie und seine Studien bei Künstlern wie Jozef Pakulski (1900-1975) und Jozef Tom (1883-1962) einfügte, erhielt durch ihn eine Ausweitung, die nicht nur die Visuelle Kommunikation in all ihren Dimensionen und Implikationen prägte, sondern eine Denk- und Sichtweise, die keine Grenzen kennt und auf die Überwindung von Grenzen abzielt. Damit entsprach er dem Anliegen einer jungen Generation der 1960er Jahren, die bestrebt war, Neues zu entdecken und zu schaffen, wie es in der Bewegung zur Erneuerung von Kultur- und Musikstudien zum Ausdruck kam, die zur Gründung der Gesellschaft Nova Difusão 1968 führte.


Am 30. September 1969 wurde die Ausstellung mit einem Konzert eröffnet, das ein Markstein für die Beziehungen zwischen Polen und Brasilien und die Auseinandersetzung von Musik mit dem Visuellen darstellte. Von ihm ging die Berücksichtigung Polens in den Studien des 1968 gegründeten Centro de Pesquisas em Musicologia und nachfolgenden Institutionen und Projekten in Europa und Brasilien in den folgenden Jahrzehnten aus. Am Konzert nahmen teil Grace Busch (Flöte), Valeska Hadelich (Violine), Paulo Affonso de Moura Ferreira (Klavier) und Salvador Masano (Oboe).


Paulo Affonso de Moura Ferreira, der das Programm gestaltete, verfasste einen Kommentar, der nicht nur neue Informationen zur zeitgenössischen Musik in Polen vermittelte, sondern das Bild des Landes und der polnischen Musik in Brasilien zu korrigieren versuchte. Paulo Affonso beklagte die Routine der Programmgestaltungen sowie eine fehlende mentale Aufgeschlossenheit von Interpreten und  Organisatoren von Musikveranstaltungen.


Das Bild der polnischen Musik war oft unzureichend, als ob sie mit Fréderic Chopin (1819-1849) ihren Anfang und ihr Ende findet. Das Niveau der zeitgenössischen Musik Polens überstieg aber unter vielen Aspekten die musikgeschichtliche  Bedeutung Polens des 19. Jahrhunderts.


Die außerordentliche Position, die Polen in weniger als einem Vierteljahrhundert in der internationalen Szene der musikalischen Avantgarde einnahm, war nach Paulo Affonso ein überraschendes Phänomen, da das Land am Ende des 2. Weltkrieges weitgehend verwüstet dalag. Diese Entwicklung war nur einer fortschrittlichen Kultur- und Bildungspolitik zu verdanken. Ohne die Musik der Vergangenheit zu entwerten, wurden in Polen Forschung und Schaffen gefördert. Seit 1957 schufen die Internationalen Festspiele zeitgenössischer Musik – Wahrschauer Herbst –  ein internationales Forum für Debatten der Musikproduktion des Landes und des Auslandes. Ein besonderes Augemerk galt für Paulo Affonso Poznan mit seinem jährlichen Festival Moderner Musik, das vornehmlich jungen polnischen Komponisten gewidmet war. Die rezente Musikproduktion wurde im Repertoire der vielen Orchester Polens sowie von Kammergruppen sowie zahlreicher Musiker berücksichtigt. Eine besondere Aufmerksamkeit verdiente die visuelle Qualität der Musikeditionen Polens, die in Krakau gedruckt wurden und deren Gestaltung durch die Mitarbeit von Künstlern Kunstwerken glichen.  


Im Konzert wurden Werke von Witold Lutoslawski (1913-), Krzystof Penderecki (1933-), Henry Gorecki (1933-), Wlodzimierz Kotonski (1952), Andrzej Dobrowolski (1921) und Kuliusz Lucluk (1927) vorgetragen. Hervorzuheben ist die Teilnahme von Penderecki in Brasilien. Er wirkte als Mitglied der Jury des I. Festival de Música Brasileira in Rio de Janeiro.


Die Bedeutung des Visuellen für die Musik zeigte sich auch und vor allem in der Notation. Luliusz Luciuk, Musikwissenschaftler und Komponist, der eine neue Art musikalischer Graphik entwickelte, eine Notierung von Aktionen, war Impulsgeber für die Auseinandersetzungen mit Fragen von Notierungen, die in Musikschaffen und Musikforschung – u.a. hinsichtlich der Rolle von Transkriptionen in der Musikethnologie – die Debatte in Brasilien Ende der 1960er Jahren und Anfang der 1970er Jahren prägte.



Text basierend auf Niederschriften der Lehrveranstaltungen zu Musikästhetik und kulturwissenschaftlich orientierter Musikwissenschaft von Prof. Dr. A. A. Bispo an den Universitäten Bonn und Köln 2002-2008