AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo



formation
& transformation
der musiksprache





jacques chailley
1910-1999



rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien 1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo
fachbereiche ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie
fundamente der expression und kommunikation des menschen

arbeitsheft zum studium
ausgehend von den vorlesungen von jacques chailley an der sorbonne



vorausgehende studien und initiativen

zentrum für forschungen in musikologie
gesellschaft neue diffusion ND 1968

museum zeitgenössischer kunst der universität são paulo 1968
fakultät für architektur der universität são paulo 1968
internationale kurse von curitiba 1968-1970
musikseminare der bundesuniversität bahia 1969

Eine der großen Neuerungen im Curriculum in Fakultäten von Musik und Musikerziehung bzw. Kunsterziehung Brasiliens Anfang der 1970er Jahre war die Einführung des Faches Strukturation. Dieses ersetzte in vielen Fällen musiktheoretische Fächer wie Formenlehre, Harmonielehre und Kontrapunkt der alten Konservatorien und warf somit erhebliche Fragen hinsichtlich seiner adäquaten Durchführung auf. Seine4 Einführung wurde dementsprechend von Studien und Gruppendiskussionen begleitet. Die Bezeichnung suggerierte Parallelen zu strukturalistischen Auffassungen, zumal Claude Lévy-Strauss (1908-2009) wichtige Teile seines Werkes in Brasilien erschaffen hatte und dort einen nachhaltigen Einfluss auf die Denkweisen in vielen Wissensbereichen ausübte. Es lag nahe, das Fach im Lichte der "Traurigen Tropen" zu sehen. Die Bezeichnung war jedoch im Curriculum von Architekturfakultäten geläufig, was die Anlehnung an Gedanken von Konstruktion und Bau verriet.


Die Debatte über Erneuerung von Morphologie, Harmonielehre und anderen theoretischen Fächern war jedoch gerade von dem Anliegen geleitet, jegliche Stereotypisierung bzw. formelhafte Behandlung zu vermeiden, indem der Blick auf historische Prozesse gerichtet wurde. Interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Musikgeschichte und Musikethnologie bei Überwindung von Grenzen zwischen den Fachbereichen war dafür Voraussetzung. Strukturierungsfragen sollten somit unter historischer Perspektive in grenzüberschreitenden Kulturbetrachtungen erörtert werden, wodurch sich das Fach der Vergleichenden Musikwissenschaft näherte. Es stellte den Anfang der Institutionalisierung der systematischen Musikwissenschaft in Brasilien dar, die allerdings in enger Beziehung zur historischen Musikforschung und Musikethnologie entwickelt werden sollte.


Als Handbuch zur praktischen Einführung wurde die Abhandlung von Jacques Chailley verwendet, die er für seine Kurse an der Sorbonne verfasst hatte. Für die Übersetzung und Adaptation seiner Arbeit, die auch kritische Anmerkungen zu zugrunde liegenden evolutiven Auffassungen enthielt, wurden mit ihm Überlegungen angestellt, die wenige Jahre später in Europa fortgeführt wurden.


Jacques Chailley gehört zu den europäischen Musikwissenschaftlern, die maßgeblich das musiktheoretische Denken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weltweit geprägten haben. Vor allem in den frankophonen und romanischen Ländern wurden seine Publikationen rezipiert. Die breite Wirkung seiner Persönlichkeit und seines Denkens erklärt sich aus seiner Stellung als Direktor des Instituts für Musikwissenschaften an der Sorbonne, die er zwischen 1962 und 1982 innehatte.


Chailley fügt sich in eine Tradition des musikwissenschaftlichen Denkens ein, die auf ihre Lehrer Maurice Emmanuel (1862-1931), Professor am Conservatoire, und André Pirro (1869-1943) zurückgeht. Bereits 1952 wurde er Professor für Musikgeschichte. Ein anderer Grund für seine Bedeutung insbesondere für die romanischen Länder war seine Beziehung zur katholischen Kirchenmusik und zur Kirchenmusikforschung. Er war von 1962 bis 1982 Leiter der Schola Cantorum und lange Zeit Vorsitzender der Internationalen Organisation für Kirchenmusik, Consociatio Internationalis Musicae Sacrae.


Vor allem in Brasilien spielte Jacques Chailley eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung des musiktheoretischen Denkens. Er ist mit Brasilien durch Familientradition besonders verbunden. Sein Vater, der Violinist M. Chailley, besuchte mit seinem Quartett vor Ende des I. Weltkrieges Brasilien, zu einer Zeit, als Paul Claudel (1868-1955) und Darius Milhaud (1892-1974) an der diplomatischen Vertretung Frankreichs in Rio de Janeiro tätig waren. Darüberhinaus studierte Jacques Chailley bei Nadia Boulanger (1887-1979), die auch einen nachhaltigen Einfluss auf brasilianische Komponisten ausübte. Als Schüler von André Pirro, der vor allem durch seine Studie über die Ästhetik Johann Sebastian Bachs im Kreis der Bach-Gesellschaft São Paulos berühmt war, war Chailley als Musikwissenschaftler in São Paulo anerkannt.


Publikationen von Jacques Chailley wurden in musiktheoretischen und musikgeschichtlichen Kursen des Konservatoriums verwendet, die von dem 1968 gegründeten Centro de Pesquisas em Musicologia (ND) orientiert wurden. Studien, die Chailley für seine Vorlesungen an der Sorbonne erarbeitet hatte, wurden als Grundtexte im Fach Estruturação des Fachbereichs Ästhetik der Fakultät für Musik und Musikerziehung des IMSP verwendet. Da diese Publikationen Vorgehensweisen der vergleichenden Musikwissenschaft aufweisen, wurden sie auch unter musikethnologischen Perspektiven diskutiert.

Text basierend auf Niederschriften der Lehrveranstaltungen zu Musikästhetik und kulturwissenschaftlich orientierter Musikwissenschaft von Prof. Dr. A. A. Bispo an den Universitäten Bonn und Köln 2002-2008