AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo



ästhetik
neuer evangelischer kirchenmusik




kurt hessenberg

1908-1994



rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien
1970 - 1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo
fachbereiche ästhetik, ethnomusikologie und
fundamente der expression und kommunikation



vorausgehende studien und initiativen


zentrum für forschungen in musikologie
gesellschaft neue diffusion ND 1968
gesellschaft pro-musica sacra, são paulo 1968

internationale kurse von paraná 1969 und 1970

collegium musicum von são paulo 1969




In den Fachbereichen Ästhetik und Ethnomusikologie der Fakultät für Musik und Kunsterziehung des Musikinstituts São Paulo wurde den Studierenden die Möglichkeit gegeben, sich in dem Modul zu einer sozial- und kulturwissenschaftlich orientierten Religionswissenschaft mit der evangelischen Kirchenmusik in Brasilien auseinanderzusetzen. Dies wurde von evangelischen Studierenden in Anspruch genommen, die sich mit der Erneuerung der evangelischen Kirchenmusik aus der Perspektive der ästhetischen und ethnomusikologischen Debatte beschäftigten. Die Fakultät unterhielt Beziehungen zu evangelischen Kirchenmusikern verschiedener Kirchen, was das Kennenlernen unterschiedlicher Repertoires, Musik- und Schulpraktiken, Auffassungen und Tendenzen ermöglichte.


Das Musikinstitut São Paulo blickte auf eine lange Geschichte besonders enger Beziehungen zur evangelischen Kirche lutherischen Glaubens von São Paulo zurück, die in der Vergangenheit besonders durch das Wirken des Komponisten und Dozenten Paulo Florence (1864-1949) zu erklären war. Auch der jahrzehntelange künstlerisch-wissenschaftliche Leiter des Instituts – Martin Braunwieser (1901-1991) – unterhielt als Vorsitzender der Bach-Gesellschaft São Paulos Beziehungen nicht nur zur katholischen, sonder auch zur evangelischen Kirche und in der Vergangenheit zur Christengemeinde neben esoterisch geprägten Kreisen São Paulos.


Diese Beziehungen betrafen vorwiegend Gemeinden mit deutscher Vergangenheit, sodass bei der Betrachtung der Kirchenmusik vor allem Fragen des deutschsprachigen Kirchenliedes und dessen Übersetzungen, der Orgel- und Chorpraxis sowie des Repertoires deutscher Tradition und seiner Adaptation und der Rezeption von Auffassungen und Tendenzen des kirchenmusikalischen Denkens in Deutschland im Vordergrund standen. Unter den Studierenden befanden sich aber auch zahlreiche Presbyterianer, Methodisten, Adventisten, Baptisten u.a., deren Musikpraxis aus anderen Kontexten stammten und vor allem Strömungen des Denkens und der Praxis aus Nordamerika verpflichtet waren.


Die Beziehung zum Musikkonservatorium der Adventisten von Campinas war durch fortgeschrittene Studierende der Kompositionsklasse besonders intensiv. Musiker und Chöre dieser Institution traten in Hochschulkonzerten auf und die Aufführungen von Kompositionsarbeiten dieser Musiker, die sich stark an nordamerikanischer Musik orientierten, übten einen technischen und ästhetischen Einfluss aus auf das Studium der Harmonie und des Tonsatzes im allgemeinen im Fach Strukturationstheorie.


Die Auseinandersetzung mit Geschichte, Praxis und Auffassungen der verschiedenen Konfessionen war somit mit sozialen und kulturellen Fragen der Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Einwanderungsgeschichten verbunden, sodass die Betrachtung von ästhetischen Fragen nur aus einem ethnomusikologischem Ansatz heraus vertretbar erschien.

Die Beschäftigung mit der evangelischen Kirchenmusik spielte eine bedeutende Rolle bei den Bestrebungen zur Erneuerung von Denk- und Sichtweisen, die Mitte der 1960er Jahren in São Paulo einsetzten, und war von Anfang an überkonfessionell ausgerichtet. Die Presbyterianer hoben sich durch besonders aktive und kompetente Kirchenmusiker hervor, die eine bedeutende Rolle im Musikleben São Paulos spielten, wie der Organist und Chorleiter Samuel Kerr. Evangelische Musiker und Musikforscher wirkten in der 1968 gegründeten Gesellschaft Nova Difusão mit ihrem Zentrum für Musikwissenschaftliche Forschung und selbst in deren gregorianischen Schola mit. Das Gründungskonzert mit dem Chor der Rechtsfakultät wurde von Luís Roberto Borges (1942-1993) geleitet, der sich der Erforschung der Kirchenmusik aus evangelischer Sicht widmete und zum Vorsitzenden der von ihm gegründeten Gesellschaft Pró-Musica Sacra wurde.


Entsprechend der Orientierung der Bewegung zur Erneuerung von Denk- und Sichtweisen zielte die Beschäftigung mit der evangelischen Kirchenmusik auf eine Erforschung der Forschung. Theologische und konfessionsgebundene Positionierungen in den Studien evangelischer Kirchenmusik sollten erörtert und selbst zum Gegenstand der Betrachtung werden.


Die Überlegungen gingen von der Gegenwart aus. Die Beziehungen zwischen der evangelischen Kirchenmusikforschung und der Hymnologie aus dem deutschsprachigen und anglophonen Raum und Brasilien wurden besonders berücksichtigt.  


Eine besondere Aufmerksamkeit galt der Bewegung zur Erneuerung der evangelischen Kirchenmusik in Deutschland, die internationale Dimensionen annahm und sich in Brasilien auswirkte. Sie war mit Namen wie Hugo Distler (1908-1942), Ernst Pepping (1901-1981) und Kurt Hessenberg verbunden, deren Werke auch in den Kirchen São Paulos zur Aufführung gelangten. Zu Kurt Hessenberg, Komponist und Professor für Komposition an der Musikhochschule Frankfurt a.M., bestanden Verbindungen, die ab 1975 in Deutschland weitergeführt wurden. Die Beschäftigung mit dem Lebensweg und der Rezeption von Hessenberg richtete den Blick in der sozial- und kulturwissenschaftlich orientierten Auseinandersetzung mit der Kirchenmusik in der Fakultät auch auf die belastete politische Vergangenheit evangelischer Kirchenmusik sowohl in Deutschland als auch in Brasilien sowie auf die Bemühungen, diese Vergangenheit zu verarbeiten und zu überwinden. Hessenberg, der am Hoch'schen Konservatorium seine Ausbildung 1917 begann und von 1927 bis 1931 am Landeskonservatorium Leipzigs Komposition und Klavier u.a. bei Günter Raphael (1903-1960) studierte, machte seine Berufslaufbahn in nationalsozialistischer Zeit und war gar seit 1942 Mitglied der Partei.


Im Rahmen der Ästhetik-Studien wurden aber vor allem die musiktheoretischen Auffassungen Hessenbergs besprochen, da er zu einem Hauptvertreter der Kirchenkomponisten wurde, die überzeugt waren, das tonale System wäre nicht voll ausgeschöpft, sodass es vertretbar sei, weiterhin – wenn auch in ausgeweiteter Form – tonale Musik zu schaffen. Diese Ansicht, die aus pragmatischen Gründen der Aufnahmebereitschaft der Zuhörer und Sänger in den Kirchen verständlich erschien, war durch ihren Konservativismus mit Avantgarde-Tendenzen der zeitgenössischen Musik schwer zu vereinbaren und rief zu ihrer Begründung nach neuen Annäherungen.


Als Beispiel für die theoretischen Auffassungen und der Musiksprache von Hessenberg wurde bei einem Konzert im Zentrum für musikwissenschaftliche Forschung der Nova Difusão am 28. August 1971 seine Sonate c-Moll opus 34 N°1 (Moderato, Adagio, Vivace) erstmalig in Brasilien aufgeführt und kommentiert, was zu einem anderen Anlass auch an der Fakultät des Musikinstituts São Paulos wiederholt wurde.


Text basierend auf Niederschriften der Lehrveranstaltungen zu Musikästhetik und kulturwissenschaftlich orientierter Musikwissenschaft von Prof. Dr. A. A. Bispo an den Universitäten Bonn und Köln 2002-2008