AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo


design
kommunikation & kunst




décio pignatari

1927 - 2012



rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien
1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo
fachbereiche ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie
fundamente der expression und kommunikation des menschen




vorausgehende studien und initiativen

kunst und kommunikation. kulturamt und stadtbibliothek von são paulo

museum zeitgenössischer kunst der universität são paulo 1968

zentrum für forschungen in musikologie
gesellschaft neue diffusion ND 1968
fakultät für architektur der universität são paulo
fachbereiche visuelle kommunikation und design 1969
internationale kurse von curitiba 1968-1970
musikseminare der bundesuniversität bahia 1969

In Lehrveranstaltungen zur Ästhetik an der Fakultät für Musik und Kunsterziehung des Musikinstituts São Paulo, die in enger interdisziplinärer Zusammenarbeit mit der Ethnomusikologie geführt wurden, wurden seit 1972 nicht nur kritische Relektüren von älteren Publikationen zur Ästhetik durchgeführt, sondern die rezenteren Entwicklungen des theoretischen Denkens zu Fragen von Kunst, Architektur, Musik, Kommunikation und Medien rekapituliert. Die Studierenden, die zum Teil bereits graduiert waren und sich fortbildeten, sollten sich in diese Entwicklung einfügen und sie theoretisch und praktisch – auch in der Schulpraxis als Lehrer – fortführen.


Die Bibliotheken São Paulos verfügten über zahlreiche Publikationen europäischer und nordamerikanischer Autoren, die maßgeblich neue Tendenzen des kultur- und kunsttheoretischen Denkens in Intellektuellen- und Universitätskreisen seit den 1950er Jahren förderten.


Zu den studierten Publikationen zählte das Werk von Charles Morris über Zeichen, Sprache und Verhalten, das in italienischer Übersetzung von Silvio Ceccato weite Verbreitung fand (Segni, linguaggio, comportamento, Mailand: Longanesi 1949). Die Kybernetik von Norbert Wiener (Human use of human being – Cybernetics and Society, New York: Doubleday & Co. Ins.,  1954) entfachte in São Paulo auch in ihrer Bedeutung für die Analyse sozialer Prozesse weitreichendes Interesse für Mechanismen und Regelungen von Entwicklungen, was in den 1960er Jahren kulturpolitische Aktionen inspirierte.


Nicht nur in Philosophenkreisen São Paulos wurden die Schriften von Charles S. Peirce rezepiert (Philosophical writings of Peirce, New York: Dover 1955). Sie wurden 1968 auch in der Fakultät für Architektur der Universität als Basistexte diskutiert. Durch die französische Übersetzung konnten Publikationen zu Sprache, Kommunikation und Informationstheorie von einem breiteren Leserkreis studiert werden. Zu ihnen zählten Texte von George A. Miller (Langage et communication, trad. Colette Thomas, Presses Universitaires de France 1956) und die Studien zur Logik, Sprache und Informationstheorie von B. Mandelbrot, L. Apostel und A. Morf (Logique, langage et thérie de l’information, Presses Universitaires de France 1957). Leitend für die Auseinandersetzung mit ästhetischen Fragen wurde vor allem Abraham Moles Theorie de l’information et perception esthétique (Paris: Flammarion 1958).


Als Grundlektüre bei Kursen in Kunst und Ästhetik, wie die von iade in São Paulo durchgeführt wurden, zählten auch On human communication von Colin Cherra (New York: Sciences Editions 1959) und die Studien zur Linguistik von Roman Jakobson, leicht zugänglich in der franzosischen Übersetzung von Nicolas Ruwet (Essais de linguistique generale, Paris: Editions de Minuit 1963).


Das Interesse für die Massenkommunikation wurde in São Paulo geweckt durch die Communications als Organ der École Pratique des Hautes Études des Centre d’Études de Communications de Masse (Paris: Seuil, 1964). Hier hob sich vor allem der Text von Roland Barthes zur Rhétorique de l’image (n°5, 1964) hervor, der vervielfältigt den Studenten der FAU/USP als Basislektüre zum Studium diente.  Ebenfalls zu den führenden Texten der Studien in Sozialwissenschaft, Kunst und Architektur zählte Walter Benjamin’s Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit in französischer Übersetzung (L’oeuvre d’art á l’ère de sa réproductibilité technique, Oeuvres Choisis I, Paris: Julliard 1964).  1964 erschien in portugiesischer Übersetzung O pensamento artificial von Pierre de Latil (Ibrasa) und 1965 A linguagem no pensamento e na ação von S. I. Hayakawa (São Paulo: Pioneira). Bemerkenswert – aber Zeichen für die Aktualität des Interesses – war die von der „Allianz für den Fortschritt“ geförderte Ausgabe in portugiesischer Sprache von David K. Berlo’s The Process of Communication (1960).


Um die Mitte der 1960er Jahre, als die Bewegung zur Erneuerung von Denk- und Sichtweise Nova Difusão einsetzte, gehörten zu den Leitlektüren Ferdinand de Saussure’s Cours de linguistique générale (Paris: Payot 1965) und Henri Lefebvre’s Le langage et la société (Paris: Gallimard 1966). Die Auseinandersetzung mit den Medien, deren Bedeutung für Musik, Kultur und Lebensweisen zu dieser Zeit angesichts der Popularität und Wirksamkeit der Popularmusikfestivals offenkundig wurde, konnte sich auf Marschall McLuhan’s Understanding media (McGraw Hill Publications 1965) stützen. Die elektronische Musik, die auch im Bereich der architektonischen Akustik an der Universität São Paulo Gegenstand von Studien wurde, konnte sich auch an H.S. Hallacy’s Computeers, the machines we think with (New York: Signet books 1965) orientieren. Zu erwähnen sind auch die Impulse, die von Texten eines Umberto Eco ausgingen, die auch in französischer Übersetzung verbreitet wurden (L’oeuvre ouverte, trad. C. Roux de Bézieux, Paris: Seuil 1965).

Von besonderer Bedeutung für die Bewegung zur Erneuerung von Denk- und Sichtweisen in den Kulturstudien São Paulos in den 1960er Jahren war die Reihe von Vorlesungen zum Thema Kunst und Kommunikation, die 1967 unter Leitung von Décio Pignatari von der Sektion für Kunst der Stadtbibliothek Mário de Andrade mit Unterstützung der Kulturabteilung und des Sekretariats für Erziehung und Kultur der Stadt São Paulo veranstaltet wurde. Diese Veranstaltung ging unmittelbar der Gründung der Gesellschaft Nova Difusão mit dem Zentrum für Erforschungen in Musikwissenschaft voraus und diente ihrer Vorbereitung.


Décio Pignatari machte sich zunächst als Dichter und Schriftsteller in der Sphäre der Literatur einen Namen. In den 1960er Jahren war er bereits in Intellektuellenkreisen von Rio de Janeiro, bei progressiven Künstlern und Architekten als führender Kunst- und Kulturtheoretiker bekannt.


Mit Luiz Ângelo Pinto veröffentlichte er 1964 Texte zu Kritik, Schaffen und Information sowie Neue Sprache und neue Poesie („Crítica, criação e informação; Nova linguagem nova poesia“ in der Zeitschrift Invenção N° 4 (São Paulo), die Grundimpulse für die schwelenden Bestrebungen zur Erneuerung von Denk- und Sichtweisen in verschiedenen Bereichen der Kulturstudien und des Schaffens gaben. Die von ihm thematisierte neue Sprache und neue Poetry waren entscheidend für die Bewegung zur Nova Música und zur Nova Musicologia, die sich ab 1966 formierte und 1968 als Gesellschaft Nova Difusão juristische Gestalt annahm.


Pignatari wurde als Theoretiker besonders im Bereich des Design zu einem der führenden Denker Brasiliens. Das Interesse für industrielles Design in Brasilien der 1960er Jahren führte zur Gründung der Brasilianischen Gesellschaft für Design, die die Zeitschrift „Produkt und Sprache“ (Produto e linguagem) herausgab, in deren erster Ausgabe 1965 Pignatari den Beruf des Designers vorstellte („A profissão do desenhista industrial“).


Seine Texte weckten zunehmend das Interesse in Kunst, Architektur und Literaturwissenschaft für das Visuelle und für Fragen von Lektüre, auch von Objekten, von Kultur und von der Realität als Texte, die in übertragenem Sinn gelesen werden sollen. Pignatari veröffentlichte 1966 „Pop-eye“ in der Zeitschrift Artes (Mai 1966) und stellte im selben Jahr in der Zeitschrift AC (Arquitetura e Construção 3, Dezember 1966) den Architekten und Erbauern die Frage, ob sie Objekte zu lesen in der Lage seien („Você sabe ler objetos?“).


1967 war das Jahr, in dem Pignatari den Kitsch thematisierte und damit die Sensibilität von Intellektuellen, Musikern, Künstlern, Architekten und Kulturforschern für ein Problem schärfte, das für Brasilien umfassend und gravierend war und nicht nur die Ästhetik, sondern durch seiner Falschheit auch eine ethische Dimension betrifft. Die von ihm in dem Text „Was ist Kitsch?“ in der Zeitschrift AC (1. Trimester 1967) sowie in dem in Rio de Janeiro veröffentlichten Zeitungsartikel „Kitsch und Repertoire“ (Correio da Manhã 7. Mai 1967) angeregte Diskussion bestimmte eine Debatte über das Verhältnis von Ästhetik und Ethik, die in der Fakultät für Architektur der Universität São Paulo sowie im Rahmen der Bewegung Nova Difusão sozial- und kulturkritisch geführt wurde. In dieser Diskussion, die auch eine politische Dimension besaß, spielte die Auseinandersetzung mit dem Kitsch in der Musik eine wichtige Rolle. Sie bestimmte die Überlegungen zu den Beziehungen zwischen Architektur und Musik, Kunst und Folklore, und war leitend für die Aktionsgruppe Faunos da Pauta, die 1969 in der FAU/USP gebildet wurde. Diese sich selbstironisch als Madrigal und Lyrische Kompagnie bezeichnende Gruppe von Universitätsstudenten verschiedener Fakultäten setzte sich in ihren Performances und Happenings nicht nur mit kitschiger Salon-, Unterhaltungs-, Popular- und Kunstmusik persiflageartig auseinander. Anregungen zu diesen politisch verstandenen Aktionen in einer Zeit der Militärdiktatur lieferte der Text Pignataris zur Theorie der „Kunstguerrilla“, der in der Zeitung Correio da Manhã von Rio de Janeiro am 4. Juni 1967 erschienen war.


Mit seinem Artikel zu „Wohnen und Information“ („Habitação e informação“), der ebenfalls in der Zeitung Correio da Manhã in Rio de Janeiro (5. Februar 1967) erschien, gab Pignatari Impulse zur Analyse von Wohnkultur, die in der empirischen Alltagskulturforschung im Rahmen der theoretischen Neuorientierungen des Museu de Artes e Técnicas Populares ihren Niederschlag fanden.


Text basierend auf Niederschriften der Lehrveranstaltungen zu Musikästhetik und kulturwissenschaftlich orientierter Musikwissenschaft von Prof. Dr. A. A. Bispo an den Universitäten Bonn und Köln 2002-2008