AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo


barock-ästhetik
kolonialismus

propaganda & mentalität


francisco curt lange

1903-1997


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien
1970 - 1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo
fachbereiche ästhetik, ethnomusikologie und
fundamente der expression und kommunikation der menschen



vorausgehende studien und initiativen

zentrum für forschungen in musikologie
gesellschaft neue diffusion ND 1968
studienreise nach minas gerais

fakultät für philosophie der universität são paulo 1968

fakultät für architektur der universität são paulo 1968
barockfestival der neuen diffusion/kulturamt são paulos 1970

paraphernalia – konzerte und studien zur alten musik 1970
baroquíssimos – projekt build up 1970
interamerikanisches institut für musikwissenschaft – montevideo 1973

Das ausgeprägte Interesse für den Barock in Architektur, Plastik, Malerei und Musik in den 1960er und den ersten 1970er Jahren in Brasilien äußerte sich in Publikationen, Lehrveranstaltungen an der Universität São Paulo und an Hochschulen sowie in der Aufmerksamkeit, die die Konzerte von Musik aus dem Barock und mit dem Ensemble junger Musiker Musikantiga und dessen Nachfolger Paraphernalia erhielten.


Dieses Phänomen war mehr als nur Ausdruck eines erwachenden historischen Interesses für Geschichte, für die architektonischen Bauten oder Kunstwerke aus dem Barock und somit aus der Kolonialzeit Brasiliens oder für die alte Musik insgesamt. Diese war bereits seit Jahrzehnten u.a. Gegenstand der 1935 gegründeten Bach-Gesellschaft von São Paulo, die weiterhin aktiv war.


Dieses Interesse erklärt sich auch nicht nur aus der Rezeption von entsprechenden Tendenzen zur Wiederentdeckung alten Repertoires, historischer Aufführungspraxis und des Spiels alter Musikinstrumente. Dieses wachsende Interesse für den Barock im Verlaufe der 1960er Jahren in der jungen Generation und in fortschrittlich denkenden Intellektuellen- und Künstlerkreisen São Paulos war Ergebnis sozialer und kultureller Prozesse in metropolitanen Kontexten in ihrer vitalen Dynamik der Veränderungen und erfüllt vom Drang nach Erneuerung von Denk- und Sichtweisen, nach Befreiung von erstarrter Strukturen und Normen in einer Zeit, die von politischer Unterdrückung bestimmt war. Auch die ältere Bewegung der alten Musik und die Bachbewegung verstanden sich zwar zu Anfangszeiten als im Dienste der Erneuerung nicht nur des Repertoires und des Konzertlebens, sondern von psychischen und mentalen Dispositionen stehend und setzten sich in einer vielfach prägenden geistes-wissenschaftlichen Orientierung als hehre Aufgabe, an der Erneuerung des Menschen mitzuwirken.


Das neue Interesse für den Barock in den 1960er Jahren entsprach einem Erneuerungsdrang unter veränderten Vorzeichen in einer ganz anderen existentiellen Situation und Lebenserfahrung. Bei aller Nähe der Interessen und Vorhaben waren die Unterschiede zwischen gestrigen und aktuellen Erneuerungsbestrebungen schon in der visuellen Sprache von Präsentationen und Konzerten, in der Performance von Musikern offenkundig. Ein Ensemble wie Paraphernalia unterschied sich in seiner Darstellung und Bühnenpräsenz kaum von denen der Popularmusik in Zeiten des Tropicalismo.


Die Bestrebung nach einer Überwindung eines „Denkens in Schubladen“ durch die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse in Forschung und Praxis, wie es die Bewegung Nova Difusão 1968 forderte, brachte auch Auffassungen in die Diskussion, die die Periodisierung der Geschichte betrafen. Eine Barock-Epoche war in Ländern wie Brasilien so eng mit der Kolonialzeit in der poltischen Geschichte verbunden, dass zuweilen undifferenziert Barockmusik und Kolonialmusik gleichgesetzt wurden, obwohl die Musik der Zeit vor der Unabhängigkeit des Landes stilistisch vor allem von „vor-klassischen“ Tendenzen geprägt war. Das Bewusstsein, dass der Kolonialismus ein Prozess war, der mit der Änderung des politischen Status des Landes nicht beendet war und seine Mechanismen weiterhin wirkten, weckte auch das Bewusstsein für den Barock als Prozess und für seine Weiterwirkung in der Gegenwart. Dementsprechend wurde die Revision von Ansichten über den Barock in Forschung und Praxis 1969 Thema der ersten Tagung und des ersten Festival der Nova Difusão.


Von weitreichender Bedeutung war die Rolle des Barocks in dem Projekt Build Up Electronic Fashion Show, das 1970 in großangelegter und publikumswirksamer Weise die Mechanismen der Propaganda, der Werbung und der Konstruktion von Bildern in der Konsumgesellschaft thematisierte. Das Projekt – das aus der Debatte zur Informations- und Kommunikationstheorie sowie zu den Medien entstand und zugleich sie forderte – wurde musikalisch von den Komponisten und Dirigenten Rogério Duprat (1932-2006)  und Diogo Pacheco (1921-) geleitet, hatte als Ziel, die Mechanismen der Propaganda und der Werbewirkung am Beispiel der Konstruktiuon eines Stars aufzuzeigen, nämlich von Rita Lee.


Der Show begann bezeichnenderweise mit der Anspielung auf den Barock mit der Bildung einer Instrumentalgruppe mit dem Titel Baroquíssimos, die aus Mitgliedern der Ensembles Musikantiga und Paraphernália bestand. Die Show begann mit einem Film über einen angeblichen Raubüberfall der Staatsbank mit Waffen, die sich als alte Musikinstrumente entpuppten, wodurch die Beziehungen der Musik zu Prozessen der Ausbeutung – wie sie im Kolonialismus auftreten – mit Mitteln der Persiflage angedeutet wurden. Diese Musiker bildeten das Orchester, in dem Rita Lee als Kapellmeister des Stückes Il nuovo maestro di cappella von Giovanni Paisiello (1740-1816) auftrat.  


Dieses intermezzo comico des Vertreters der neapolitanischen Schule wurde auch gewählt, um die etablierte Welt des Opernhauses São Paulo, mit dem Diogo Pacheco seit Jahren zu kämpfen hatte, parodistisch anzudeuten. Rita Lee in der Rolle des maestro di cappella unterbrach den Vortrag und suchte, ihre musikalisches Talent preisend, mit den Mitteln der in ihrer Mehrzahl befremdlichen Musikinstrumente die Musikaufführung zu realisieren, wobei in deren Verlauf ihre Unfähigkeit offenbar wurde. Dennoch wurde sie in Verlaufe der folgenden Szenen der Show zum Star aufgebaut.


Mit ihren vielfältigen Anspielungen verstand sich die Produktion als ein Lehrstück für die Mechanismen der Propaganda und der Werbewirksamkeit von Mode in der von den Massenmedien beherrschten Konsumgesellschaft, trug aber auch zu neuen Ansätzen in der Barock-Debatte bei. Von der Gegenwart ausgehend, wurde der Blick auf den Barock in seinen Beziehungen zur Propaganda in weltweitem Rahmen gerichtet und damit in erster Linie auf die 1622 in Rom errichtete Propaganda Fide als ein Markstein in der Koordinierung kirchlicher Aktivitäten in der Welt.


Nicht nur die Barock-Ästhetik der Kirchen Salvadors und auch von Minas Gerais, die Ornamentik ihrer Altäre, sondern auch die Bildersprache liturgischer und paraliturgischer Handlungen und die Festpraktiken tradierter Spiele und Tänze wurden fortan unter dem Aspekt ihrer propagandistischen Funktion Ziel von Analysen. Dabei wurde aber auch, wie bei der Werbewirkungsforschung der Gegenwart, auf die weitreichenden und Zeiten überdauernden Wirkungen dieser Propaganda geachtet, auf assimilierte psychische und mentale Dispositionen, die u.a. auch den Geschmack in der Gegenwart Brasiliens weiterhin prägen.


Die Frage nach dem ästhetischen Geschmack, die bei der konventionellen Behandlung der Ästhetik auf der Grundlage älterer Literatur eine Rolle spielte, erfuhr dadurch in den Fachbereichen Ethnomusikologie und Ästhetik eine andere Annäherungsweise. Wie bei der Show Build Up thematisiert wurde, sollte sie im Sinne der Wirkungsgeschichte von konstruierten und geförderten Bilder im Dienste des Verkaufs von Ideen, Moden, Sachen und Diensten auch im übertragenen Sinn oder in ihren geistigen Dimensionen reflektiert werden. Die Beschäftigung mit dem Barock unter diesem Ansatz wurde auch verknüpft mit der Debatte über den Kitsch als Problem des Verhältnisses zwischen Ästhetik und Ethik und führte damit zu ethischen Problemen der Falschheit, der Lüge und des Betrügens in Kultur und Gesellschaft.


Text basierend auf Niederschriften der Lehrveranstaltungen zu Musikästhetik und kulturwissenschaftlich orientierter Musikwissenschaft von A. A. Bispo an den Universitäten Bonn und Köln 2002-2008.